Interview mit Wolfgang van den Bergh „2023 kann ein wichtiges Jahr werden“

Der Countdown zum Hauptstadtkongress 2023 (HSK) hat begonnen. In diesem Jahr wartet das Branchengroßevent mit einer vollständig neuen Spitze auf. Wolfgang van den Bergh hat die wissenschaftliche Leitung des Hauptstadtforums Gesundheitspolitik übernommen. Im Interview mit HCM spricht er u.a. über die Potenziale einer neuen Versorgungsstruktur und gibt einen Ausblick auf die Agenda des HSK.

van den Bergh HSK 2023
Wolfgang van den Bergh, Wissenschaftlicher Leiter Hauptstadtforum Gesundheitspolitik, Director News & Politics, Herausgeber der Ärzte Zeitung. – © Springer Medizin Verlag GmbH/Michaela Illian.

Sektoren aufbrechen, transsektoral denken, neue Formen der Zusammenarbeit finden: Warum sprechen wir noch so viel davon, anstatt loszulegen?

van den Bergh: Ja, fürwahr. Das Thema wird tatsächlich seit Jahrzehnten diskutiert, ohne das es wirklich Fortschritte gegeben hat. Selbst die gesetzliche Einführung der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung für niedergelassene Ärzte und Klinikärzte im Jahr 2012 war bislang alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Einerseits sind die bürokratischen Hürden immer noch recht hoch, andererseits ist der Druck offenbar noch nicht hoch genug, den Worten Taten folgen zu lassen. Ich denke, das wird sich ändern, weil sich die Rahmenbedingungen kontinuierlich ändern. Die demografische Entwicklung und der medizinische Fortschritt werden die maßgeblichen Treiber sein, die Versorgungsstrukturen zusammenwachsen zu lassen. Eine Chance dazu bietet die angekündigte „Revolution“ im Klinikbereich. Bei aller Kritik an den Plänen, dürfte klar sein, dass diejenigen, die sich dem Veränderungsprozess widersetzen, auf der Strecke bleiben.

Wird 2023 die Grundlage einer neuen Versorgungsstruktur für Deutschland geschaffen?

van den Bergh: 2023 wird dann ein wichtiges Jahr, wenn es den gesundheitspolitischen Entscheidern im Bund und in den Länder gelingt, tatsächlich bis zur Sommerpause einen zustimmungsfähigen Gesetzentwurf für eine Reform der Kliniklandschaft vorzulegen. Eine solche Reform, die die Schaffung unterschiedlicher Versorgungs-„Level“, neue „Leistungsbereiche“ sowie eine stärkere Berücksichtigung der „Vorhaltekosten“ vorsieht, wird den Kliniken den Druck nehmen, weiterhin in die Leistungsmenge gehen zu müssen. In Kombination mit dem Ausbau des ambulanten Leistungsspektrums werden Kliniken die Möglichkeiten erhalten, zusätzliche Einnahmequellen zu generieren. Entscheidend wird dabei sein, inwieweit ein einheitliches Vergütungssystem die Kreativität von niedergelassenen Organspezialisten und Kliniken beflügeln kann. Es wäre ein Schritt in Richtung Zukunft mit neuen interessanten Versorgungsformen, von denen auch die dort Beschäftigten profitieren würden.

Wie kann es gelingen bei all den Überlegungen die Gesellschaft mitzunehmen? Als wie relevant erachten Sie das?

van den Bergh:  Wichtig ist es, beim Umbau des Gesundheitssystems und dem Aufbau neuer Versorgungsstrukturen die Menschen und damit die Gesellschaft mitzunehmen. Einerseits darf es ein „Weiter so“ nicht geben, anderseits muss den Menschen aber auch deutlich gesagt werden, dass sie nach wie vor Anspruch auf eine wohnortnahe, qualifizierte medizinische Versorgung haben. Dabei gilt das Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozialgesetzbuchs V, wonach „die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“ dürfen. Übersetzt bedeutet das, die zur Verfügung stehenden Ressourcen sinnvoll einzusetzen. Wir reden dann über Gesundheitseinrichtungen, die bestenfalls als weiterentwickelte Berufsausübungsgemeinschaften etabliert werden sollten. Schlagwörter wie Klinik- oder Praxis-Sterben säen unnötige Ängste und führen dazu, sich an alte überkommene Strukturen zu klammern. Das muss den Menschen erklärt werden, um dafür eine breite Unterstützung zu erfahren.

„Bundesgesundheitsminister Lauterbach muss im Frühsommer 2023 nachlegen und einen Weg aufzeigen, wie die Finanzen der Kassen nachhaltig gesichert werden können.“

Wolfgang van den Bergh

Rettet das im Spät-Herbst 2022 verabschiedetet GKV-Finanzstabilisierungsgesetz die Finanzen der Krankenkassen?

van den Bergh: Das GKV-FinStG ist ein Notbehelf. Es wird kurzfristig dazu führen, das zweistellige Milliarden-Euro-Defizit bei den Kassen zu bedienen. Von einer nachhaltigen Lösung ist das Gesetz allerdings meilenweit entfernt. Deshalb muss Bundesminister Lauterbach hier im Frühsommer 2023 nachlegen und einen Weg aufzeigen, wie die Finanzen der Kassen nachhaltig gesichert werden können. Über diese Pläne werden wir beim HSK 2023 intensiv reden – z.B. mit den Vorständen der größten Krankenkassen, die bereits ihr Kommen verbindlich zugesagt haben. Sie werden darüber hinaus ihre Vorstellungen einer nachhaltigen Finanzierung präsentieren.

„Mehr Fortschritt wagen . . .“ lautet die Überschrift über den Koalitionsvertrag: War das ein leeres Versprechen?

van den Bergh: Soweit würde ich nicht gehen, weil diese Bundesregierung wie keine andere zuvor unter schwersten Bedingungen gestartet ist. Corona, der Krieg in der Ukraine, eine zwischenzeitlich zweistellige  Inflationsrate und so weiter. Dennoch muss sich diese Regierung auch an ihre eigenen Versprechungen messen lassen. Es kommt nun darauf an, die richtigen Lehren insbesondere aus der Corona-Krise zu ziehen, um das System resilient zu machen, wie es auch der Sachverständigenrat in seinem aktuellen Gutachten fordert. Ich erinnere an die Diskussion um die Lieferengpässe. Das sollte uns eine Lehre sein, sagte die Vorgängerregierung, doch passiert ist wirklich wenig. Wir erinnern uns, kurz vor dem Jahreswechsel gab es dann Eckpunkte, wie Lieferengpässe vermieden werden könnten. Anreize sollen dazu führen, die Produktion wieder ins Land oder nach Europa zu verlagern, um Abhängigkeiten von Indien, China und Pakistan zu reduzieren. Das hätte man viel früher in Angriff nehmen sollen. Das gleiche gilt übrigens auch für den Bereich der Digitalisierung – alles Themen, über die beim HSK 2023 zu diskutieren sein wird.

Mehr zu den Themen auf dem Hauptstadtforum Gesundheitspolitik auf dem HSK 2023

  • „Mehr Fortschritt wagen“ – der Koalitionsvertrag im Check
  • Spitzen der Krankenkassen zu Gast
  • Eine Welt ohne Angst vor Krebs – von der Vision zur Realisierung
  • Datenschutz und Regulatorik im europäischen Raum
  • Integrierte Versorgung
  • uvm.

Alle Programmdetails sind immer aktuell unter www.haupstadtkongress.de verfügbar.

Die Fragen stellte Bianca Flacheneckerbianca.flachenecker@holzmann-medien.de