Duales Versicherungssystem Hat das deutsche Unikum eine Zukunft?

Das duale System der Kranken- und Pflegeversicherung steht heute im internationalen Vergleich allein da. Welche Vorteile und Nachteile bringt dieses deutsche Unikum für die Gesundheitsversorgung? Dieser Frage und dem kontroversen politischen Setting widmeten sich ein Symposium des WIdO und eine Umfrage des Instituts.

WiDO-Monitor Duales Versicherungssystem
Diskussion beim Symposium des WIdO: Solidaritätsmodell bei der Versicherung stärken … eine vorsichtig formulierte Aufforderung an die Politik. – © Reiter

Breite Zustimmung finden die Kernelemente des Solidarprinzips der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in der Bevölkerung – auch bei vielen Privatversicherten: Das hatte der WIdOmonitor vor der Veranstaltung festgestellt. Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag des Wissenschaftlichen Instituts der AOK befürworten 82 Prozent der gesetzlich Versicherten und 80 Prozent der privat Versicherten, dass Gesunde den gleichen Beitrag für ihre gesundheitliche Absicherung zahlen wie Kranke. Im Vergleich zu einer Befragung aus dem Jahr 2012 hat die Zustimmung damit deutlich zugenommen.

Die repräsentative Erhebung unter rund 2.000 gesetzlich und privat Krankenversicherten wurde auf Grundlage eines vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) entwickelten Fragebogens Anfang 2023 vom Sozialforschungsinstitut Forsa durchgeführt. Sie zeigte beispielsweise auch hohe Zustimmungswerte für die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und Jugendlichen und für den Einkommensausgleich.

Bei der Einschätzung einzelner Versorgungsaspekte wie Qualität, Therapiezugang oder Patientenorientierung zeigen sich in dem Report bei gesetzlich und privat Versicherten ähnliche, mitunter identische Befragungsergebnisse. Allerdings erwarten 40 Prozent der GKV-Versicherten eine Verringerung des Leistungsspektrums, was nur 31 Prozent der PKV-Versicherten befürchten.

Viel Zustimmung für Einbeziehung weiterer Gruppen in die GKV

„Einerseits zeigt sich also hohe Zustimmung für die solidarische Ausrichtung der GKV, andererseits aber auch Verbesserungsbedarf in der konkreten Versorgung im Alltag“, kommentiert Studienleiter Klaus Zok die Ergebnisse. Vor diesem Hintergrund finden GKV-Reformoptionen wie etwa die Einbeziehung weiterer Einkommen aus Mieten, Zinsen und Kapitalerträgen bei der Beitragsbemessung relativ hohe Zustimmung (GKV: 43 Prozent Befürwortende, PKV: 50 Prozent). Auch für die Erweiterung der Solidargemeinschaft um Beamte, Selbstständige oder besserverdienende Arbeitnehmer (GKV: 75 Prozent Zustimmung, PKV: 46 Prozent) gibt es „relativ viele Sympathien“. Über die Hälfte sowohl der GKV- als auch der PKV-Versicherten befürworten die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung. Einen pauschalen Risikozuschlag für Kranke lehnten die Befragten ab. Vor die Alternative gestellt, entweder Leistungsverzicht oder Beitragserhöhung in Kauf nehmen zu müssen, um die Finanzierungsprobleme zu lösen, präferieren GKV- und PKV-Versicherte deutlich Letzteres. Das Ergebnis fällt bei dieser Frage noch deutlicher aus als 2012.

Solidarische Finanzierung stärken – auch in der Pflegeversicherung

Die Erhebung zeigte ferner eine klare Präferenz dafür, die gesamte Bevölkerung in der GKV zu versichern statt den Status quo des Nebeneinanders der beiden Systeme zu belassen. Das Ergebnis gilt für die Mehrheit der GKV-Versicherten, die zu 76 Prozent zustimmen, ebenso wie für fast die Hälfte (48 Prozent) der Privatversicherten. Für die Stärkung der solidarischen Finanzierung plädieren die Befragten auch in Bezug auf die soziale Pflegeversicherung.

Laut Zok zeigen die Ergebnisse, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung eine umfassende Gesundheits- und Pflegeversorgung im Rahmen des solidarisch finanzierten Versicherungssystems befürworte und für die Stärkung solidarischer Finanzierungselemente votiere.

Stimmen beim Symposium

Es verwundert nicht, dass auch das Symposium am Standort des Bundesverbandes in Berlin diese Kernbotschaft vermittelte – mit starken Argumenten. PKVen waren der Einladung auf die Bühne nicht gefolgt. Das Unikum des dualen Systems verdiene deutlich mehr Aufmerksamkeit, betonte Prof. Dr. Klaus Jacobs. Die AOK habe als umlagenfinanziertes Versicherungssystem über 140 Jahre hinweg zahlreiche Regime und ernste Krisen überdauert und überstanden. Warum ahme denn kein anderes Land die Dualität von GKV und PKV nach, wenn sie vermeintlich so viele Vorteile bringe, fragte der WIdO-Geschäftsführer und Leiter des Forschungsbereichs Gesundheitspolitik/Systemanalysen, der vor kurzem in Ruhestand gegangen ist.

Bedarfsorientierung, Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit der Leistungen ließen sich durch Existenz der PKV kaum durchsetzen, so Stimmen beim Symposium. Und: im Kontext der Versorgungsforschung kämen die 10 Prozent privat Versicherten nicht vor. Als „vollständig überholt“ bezeichnete Jacobs die Dualität. Es gebe starke Interessen, an ihr festzuhalten – zum einen die private Versicherungswirtschaft und zum anderen die Ärzteschaft, die von höheren Honoraren profitiere. Auch berufsständische Institutionen wie der Deutsche Beamtenbund seien an einem Festhalten interessiert. „Das ist ein Kampf um den Erhalt von Privilegien.“

Forderung nach Kapitaldeckung „ungerechtfertigt“

Ein Narrativ, das aktuell intensiv bedient werde, sei die Generationengerechtigkeit, so Prof. Jacobs weiter. „Wir brauchen Kapitaldeckung, weil sonst die nachwachsende Generation zu stark belastet wird“: Dieser Ansatz sei ebenso ungerechtfertigt wie der Vorwurf der Instabilität im Vergleich zur rücklagenorientierten PKV. So wäre die Wiedervereinigung mit einem kapitalgedeckten System nicht finanzierbar gewesen. „Schluss mit der Lagerpolitik! Warum finden wir nicht zu einer neuen ‚Lahnstein-Konferenz‘“, fragte Jacobs: CDU und SPD hatten 1992 gemeinsam die Einführung der freien Kassenwahl, und die Aufhebung der Unterschiede zwischen Arbeitenden und Angestellten beschlossen. Fortschritt werde beispielsweise möglich durch eine Enquete-Kommission mit Politikern und Wissenschaftlern. Starten könne man mit der Pflege; sie bringe unmittelbare Erfahrung für viele sowie großen Handlungsdruck. Aufgrund der ähnlichen Leistungskataloge sei hier eine Harmonisierung von GKV und PKV leichter möglich.

Solidarprinzip stärken

Die Umfrageergebnisse und der Tenor der Podien zeigten den klaren Wunsch nach Fairness, Solidarität und Gerechtigkeit, sagte Dr. Carola Reimann zum Ende der Veranstaltung. Die Politik sei gut beraten, für eine nachhaltige Erneuerung der Finanzierung genau diese solidarischen Elemente zu stärken, betonte die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. Sie fuhr fort: „Wir wünschen uns einen höheren Stellenwert für Gesundheit in der öffentlichen Debatte – bei aller Konkurrenz durch andere wichtige Themen“. Ihre vorsichtige Formulierung: Die Stärkung der Solidarität sei eindeutig das Mittel der Wahl – auch als Antwort auf wachsende Ausgaben.

Die AOK feiert im Mai ihr 140-jähriges Bestehen – und gibt sich im Kontext des Reformdrucks durch Demographie mit Effekten auf Fachkräfte und Finanzen zukunftsorientiert: Schon jetzt befänden sich die Krankenkassen in einem starken Umbruch hin zur Effizienz. Ihren Wurzeln gemäß fordere die AOK einen größeren Gestaltungsspielraum für die regionale Versorgung.